Salzgitter. Die Städtischen Kunstsammlungen Salzgitter zeigen nostalgische Zukunftsvisionen des ehemaligen „Stern“-Illustrators Günter Radtke.

Wenn die gläsernen Kuppeln der mit Kernenergie elektrifizierten Zukunftsmetropole im Sonnenlicht gleißen, dann wird die Technikbegeisterung des Illustrators spürbar. Runde Formen und satte Farben atmen den Optimismus der Utopie. Doch beim Lesen von Begriffen wie „Farmfabriken“ und „computerisierten Silos“ für Tiere in der Bildbeschreibung werden aus der Perspektive der Gegenwart die Schattenseiten der Technik-Utopie offenbar.

Die Grafik „Neue Bordsysteme für die 15-Milliarden-Welt“ von Günter Radke erschien 1974 im Buch „Zukunft – Das Bild der Welt von morgen“
Die Grafik „Neue Bordsysteme für die 15-Milliarden-Welt“ von Günter Radke erschien 1974 im Buch „Zukunft – Das Bild der Welt von morgen“ © FMN | Johannes Kaufmann

Die Grafik „Neue Bordsysteme für die 15-Milliarden-Welt“ stammt von Günter Radtke, der 50 Jahre als Chefillustrator für die Zeitschrift „Stern“ arbeitete. Im Schloss Salder ist ihm eine Ausstellung gewidmet. Unter dem Motto „Die Zukunft war gestern“ versammelt sie Zukunftsvisionen von den 1950er Jahren bis ins frühe 21. Jahrhundert.

Zukunftsvisionen in Salder – Entrümpler fand Grafiken auf Günter Radtkes Dachboden

Michael Heißenberg steht diesen Visionen ausgesprochen kritisch gegenüber: „Damals hat man als toll empfunden, was wir heute als Katastrophe betrachten“. Von umweltverachtendem „Technikwahn“ spricht der Softwarearchitekt – und verweist auf eine großformatige Grafik, die zeigt, wie die Sahara „zum Leben erweckt“ werden soll, indem gewaltige „Teppiche aus Kunststoffschaum“ unter dem Wüstensand verlegt werden.

Ohne Heißenberg gäbe es die Ausstellung in Salder nicht. Er ist Geschäftsführer der „zeitlupe“ in Ahrensburg, einer gemeinnützigen Gesellschaft zur Erhaltung untergehender Kulturgüter. „Als Radtke mit 97 ins Altersheim ging, hat er seinen Dachboden von einem Entrümpler leerräumen lassen“, erzählt er. Der habe dort hunderte Grafiken gefunden und diese glücklicherweise nicht weggeworfen, sondern über einen befreundeten Galeristen an Heißenberg verkauft.

Radtke in Salder – Gebrauchsgrafiken mit Macken und Flecken

Nach Recherchen über Radtke und Verhandlungen mit dessen Erben konnte Heißenberg sich 600 Grafiken für seine Sammlung sichern. Ein Bruchteil von Radtkes Lebenswerk – allein für den „Stern“ hat er rund 3000 Illustrationen angefertigt. Auch an Kunstwerken habe er sich versucht, doch die seien „fürchterlich“, so Heißenberg. „Aber die Gebrauchsgrafiken sind toll.“

36 davon zieren nun die weißen Wände unter der dunklen Holzbalkendecke des ehemaligen Kuhstalls (der heutigen Gemäldegalerie) des Schlosses Salder, von skizzenhaften und doch kunstfertigen Kohle- und Kreidezeichnungen, über knallig bunte Illustrationen bis zum originalgetreuen Raketenquerschnitt. Die Werke hängen nicht gerahmt hinter Glas, sondern stehen auf schlichten, weißen Holzbrettern. „Wie in einer Zeitschriftenauslage“, sagt der Künstler Lars Eckert, der die Ausstellung mitgestaltet hat, und erklärt: „Das unterstreicht, dass es sich um Gebrauchsgut handelt.“ Was man den Grafiken auch ansieht: Sie sind zum Teil beschriftet, markiert, beklebt und haben Flecken.

Radtkes Zukunftsvisionen sind zum Teil überraschend nah an der Realität

Doch auch die ein oder andere künstlerische Spielerei ließ Radtke sich nicht nehmen, etwa, wenn er neben einer gewaltigen Bohrinsel als Größenvergleich den Kölner Dom im Meer versenkt.

Größenvergleich: Kölner Dom und Bohrinsel.
Größenvergleich: Kölner Dom und Bohrinsel. © FMN | Johannes Kaufmann

Die Grafiken sind zum Teil von bemerkenswerter Aktualität. „Bei der Auswahl der Bilder war ich gelegentlich eher amüsiert. Manchmal wurde es aber auch richtig kribbelig, wenn mir klar wurde, wie dicht dran das eigentlich ist an unserer Realität“, sagt Stephanie Borrmann, die als Leiterin der Städtischen Kunstsammlungen der Stadt Salzgitter die Ausstellung konzipiert hat.

Hyperloop, Transrapid, autonomes Fahren – Mobilität als Schwerpunkt der Ausstellung in Salder

Da sieht man ein „Personengeschoss“ durch eine luftleere Röhre sausen, die nicht nur an den „Hyperloop“ erinnert, den Elon Musk als Prototyp in Las Vegas bauen ließ, die Grafik heißt auch „Hyperloop“. Mit „Zwanzigmal schneller als der Schall“ liegt der Begleittext von 1974 allerdings arg daneben. Magnetschwebebahnen sind gleich auf mehreren Bildern zu sehen, ebenso wie eine Einschienenbahn, auf die Radtke sogar ein Patent angemeldet hat. Eine Illustration von 1974 zeigt gar ein selbstfahrendes Auto, in dem die Passagiere einander zugewandt plauschen, ohne auf die Straße zu schauen.

„Personengeschosse in der Röhre: Zwanzigmal schneller als der Schall“, heißt es in der Beschreibung zur Radtke-Grafik „Hyperloop“ von 1974.
„Personengeschosse in der Röhre: Zwanzigmal schneller als der Schall“, heißt es in der Beschreibung zur Radtke-Grafik „Hyperloop“ von 1974. © FMN | Johannes Kaufmann

Überhaupt ist Mobilität ein Schwerpunkt der Grafiken und zugleich der Grund, warum sie nach Salzgitter geholt wurden. Oberbürgermeister Frank Klingebiel habe eine Radtke-Ausstellung beim Städtetag in Heißenbergs Heimatort Ahrensburg gesehen und befunden, dass Visionen zur Mobilität der Zukunft doch gut zu unserer Region passten, erzählt Borrmann.

Laut dem Buch „Zukunft – Das Bild der Welt von morgen“ (1974), das von Günter Radtke illustriert wurde, kann man im Auto der Zukunft fernsehen und Schach spielen, während der Autocomputer von allein zum Ziel findet.
Laut dem Buch „Zukunft – Das Bild der Welt von morgen“ (1974), das von Günter Radtke illustriert wurde, kann man im Auto der Zukunft fernsehen und Schach spielen, während der Autocomputer von allein zum Ziel findet. © FMN | Johannes Kaufmann

Eingeteilt sind die Bilder in die Kategorien Ozeane, Kontinente und Weltraum. Gelbe Banner mit Zitaten von Jules Verne betonen noch einmal die Aussage, dass vieles, was einst als Science Fiction galt, heute Realität geworden ist. Zudem greift der in Dauerschleife gezeigte Kurzfilm „Karnival of the Ages“ mit seinen Zukunftsvisionen im Stil der 1950er Jahre den nostalgischen Grundton der Ausstellung auf. Er wurde von einer Künstlichen Intelligenz erzeugt und spiegelt mit seinen teils verstörenden Bildfehlern – ob gewollt oder ungewollt – das erwähnte Schwanken zwischen Utopie und Dystopie.

Radtkes Fortschrittsoptimismus ist nicht naiv und erklärt sich aus dem historischen Kontext

Wobei man Radtke Unrecht tut, wenn man ihm naiven Fortschrittsoptimismus unterstellt. Eine Skizze trägt den Titel „Überfischung“, seine Darstellung einer sowjetischen Trabantenstadt enthält subtile Kritik in der Farbgebung des Himmels und den zwar klaren, futuristischen Formen, aber geschlossen-abweisenden Anordnung der Gebäude. Und im von ihm illustrierten Buch „Zukunft – das Bild der Welt von morgen“ von 1974, aus dem viele der ausgestellten Werke stammen, wird explizit auf die negativen Seiten der Technik verwiesen, auf die Kritik „an den Giftwolken des Umweltschmutzes, den Todespilzen der Atombomben, der Katastrophe der Naturgewalten“.

Trotzdem, in einem Land, das 2024 zum wiederholten Mal bei der Meinungsumfrage „Tech Compass“ von Bosch als das technikskeptischste von sieben untersuchten Ländern abschnitt, dürfte der kritische Blick auf Radtkes positive Zukunftsvisionen stets präsent sein. Bei der Einordung hilft der historische Kontext: Missernten und eine Hungersnot, die fast ein Viertel der Weltbevölkerung betraf, führten 1974 zur Einberufung der ersten Welternährungskonferenz. Aus diesem Jahr, in dem es in der Landwirtschaft nicht um die Förderung der Artenvielfalt, sondern um Ernährungssicherung ging, stammt Radtkes Utopie schienengeführter, automatisierter Landmaschinen. Heute hungern weniger als zehn Prozent der Weltbevölkerung – ein Erfolg, der maßgeblich der Technisierung zuzuschreiben ist.

„Die Zukunft war gestern“, bis 14. Juli, Schloss Salder, Dienstag bis Sonntag 11 bis 17 Uhr. Der Eintritt ist kostenlos.