Braunschweig. Hörgeschädigte Kinder aus Braunschweig trainieren Fußball mit Ex-Eintracht-Star Wehlage im Kick-Off. Einige träumen von einer Karriere.

Schnell und klar gebärdet Davyd in Richtung seines Mitschülers Liev. Er spreizt zwei Finger, zieht die Arme auf und ab; die Hände schnellen durch die Luft, drehen sich. Obwohl der kleine, schmale Junge übergroße Torwarthandschuhe trägt, scheint Liev ihn gut zu verstehen. Denn er beginnt zu lachen. Dabei öffnet Liev den Mund und lächelt. Er keucht und wirft schnell Kopf und Oberkörper zurück, während er die Augen zukneift. Ganz zum Schluss entfährt ihm ein unkontrolliertes Krähen, das weder er noch Davyd hören. Plötzlich geht ein Ruck durch Davyd. Aus dem Augenwinkel sieht er, dass ein Spieler mit Ball auf ihn zuläuft und schießt. Der Ball geht ins Tor. Davyd hat zu spät hingesehen, um schnell genug zu reagieren. Davyd und Liev trainieren zusammen mit der Fußball AG es Landesbildungszentrums für Hörgeschädigte in Braunschweig (LBZH). Die beiden sind gehörlos.

Die Fußball AG rief Markus Keil vor 14 Jahren ins Leben. Er ist Lehrer an der Förderschule Hören und Fachbereichsleiter für Sport am LBZH. „Mein Ziel ist es, dass der Fußball das Selbstbewusstsein der Kinder stärkt“, erklärt er. Leidenschaft verbinde. Sport biete eine einzigartige Möglichkeit, durch Zusammenarbeit zueinander zu finden. Keil knüpft an die AG die Hoffnung, dass die Kinder auch in hörenden Mannschaften integriert werden. Und es funktioniert. „Das ist bundesweit außergewöhnlich“, sagt er. Braunschweig fördere gehörlose Jugendliche im Fußball wie kaum ein anderer Standort.

Davyd (l.) und Liev wechseln sich im Tor ab.
Davyd (l.) und Liev wechseln sich im Tor ab. © FMN | Bernward Comes

Ex-Eintracht-Profi Wehlage trainiert die Kinder im Kick-off

Etwa 20 hörgeschädigte Kinder trainieren einmal wöchentlich gemeinsam in der „Soccerarena Kick-off“ im Braunschweiger Nordosten. Holger Wehlage, ehemaliger Fußball-Profi von Eintracht Braunschweig, ist ihr Trainer und einer der Chefs des Kick-Off. Er und Marco Dehne, der Co-Betreiber der Fußballhalle, wollten, als sie die Halle eröffneten, auch soziale Projekte unterstützen. Keil überzeugte die beiden von seinem Projekt. Seitdem trainieren die hörgeschädigten Kinder des LBZH wöchentlich bei den Ex-Profis.

Ein Ball kracht gegen eine Bande, der Donner des klappernden Plastiks hallt durch den Raum. Das Gummigranulat aus dem Kunstrasen riecht herb, wie der Duft von Schulturnhalle. Kalter Wind zieht die blecherne Außenwand der Halle entlang, innen ist es kühl, doch dank des Trainings frieren die Kinder nicht. Ein großes Dachfenster beleuchtet das äußere der drei nebeneinanderliegenden Felder, hier trainiert Wehlage die stärkeren Spieler. Nebenan, in der Mitte, arbeitet ein Co-Trainer mit einer zweiten Gruppe.

Wehlage läuft in die Mitte des Feldes und ruft die Kinder zusammen. Sie stellen sich in einem Halbkreis um ihn auf, Lehrer Markus Keil stellt sich neben ihn. Wehlage spricht betont über die letzte Übung. Keil übersetzt routiniert, was der ehemalige Eintracht-Profi sagt. „Wir machen eine kurze Pause, geht was trinken“, sagt Wehlage zuletzt. Bei diesem Satz formt er seine Hand zu einem Becher, den er an die Lippen führt. Es ist die passende Gebärde.

Markus Keil gebärdet mit einem Schüler.
Markus Keil gebärdet mit einem Schüler. © FMN | Bernward Comes

Die Jugendlichen spielen teilweise in drei Braunschweiger Teams gleichzeitig

Auf der Fahrt zum Training erzählt Felix vom Fußball. Die Fußball AG des LBZH fährt mit einem BSVG-Bus zum Training ins Kick-Off, es ist eine wöchentliche Sonderfahrt. Felix ist in der vierten Klasse. Mithilfe ihrer Hörgeräte können die Kinder aus seiner Sitzgruppe und er sich trotz der Fahrtgeräusche unterhalten. Felix redet über Torjubel. Er habe sich noch nicht festgelegt, welchen er macht, aber die vor der Brust verschränkten Arme von Mbappe findet er cool. Mbappe ist einer seiner Lieblingsspieler. Aber auch Neymar, Ronaldo und – Levin, Milad und Eduard, Eddie genannt, gehören dazu. Die letzten drei gewannen für seine Schule 2023 die Deutsche Fußballmeisterschaft der Bildungseinrichtungen für Hörgeschädigte.

Holger Wehlage (r.) coacht Eduard (2.v.l.), während Lehrer Keil (2.v.r.) zuhört.
Holger Wehlage (r.) coacht Eduard (2.v.l.), während Lehrer Keil (2.v.r.) zuhört. © FMN | Bernward Comes

„Eddie ist unsere Zaubermaus“, erzählt Wehlage. Der 13-Jährige sei ein typischer Futsal-Spieler. „Der spielt mehr auf Verarsche“, sagt der Ex-Profi und lächelt. Die Kinder, die aus dem LBZH zu ihm kommen, bekämen in Vereinen nicht immer die gleichen Chancen. „Aber wir haben einige Talente“, sagt der Ex-Eintracht-Profi. Er habe sich dafür eingesetzt, dass zwei von ihnen, Eduard und Milad, zum Sichtungstraining von Eintracht Braunschweig ins Nachwuchsleistungszentrum eingeladen wurden. Mehrere Jungs aus der AG spielen auch in hörenden Mannschaften und träumen von einer Profikarriere.

Tyron spielt zum Beispiel für die U15 von Lengede, Eduard bei Schöningen. Neben der AG und ihrem Verein sind einige auch im Fußball-Team des GSV Braunschweig aktiv, dem Gehörlosensportverein. Dank einer Sonderregelung dürfen die Kinder in zwei Vereinen gleichzeitig spielen. Während der Fahrt zücken sie ihre Handys. In zwei Fußball-Apps vergleichen sie ihre Spiel-Statistiken, die dort sogar für Jugendspieler vorliegen. Einige gehörlose Menschen haben es bereits geschafft, Profi zu werden: Stefan Markolf zum Beispiel spielte in der zweiten Bundesliga für Mainz, er ist von Geburt an fast völlig gehörlos. Bei den Spielen trug er ein Hörgerät.

Betroffene sehen Gehörlosigkeit auch als Norm - ihnen fehlt nichts

Das wollen nicht alle Gehörlosen. Eine andere Gruppe im Bus redet nicht, zumindest nicht laut. Sie gebärden miteinander, denn die meisten Kinder in der Runde sind gehörlos und tragen keine Hörgeräte. Unter ihnen ist Jennifer. Die 15-Jährige lebt am LBZH im Internat, ihre Familie lebt in Hildesheim. Sie spielt auch Fußball, doch ihre Leidenschaft ist das Schwimmen. Mehrere Meistertitel habe sie bei Gehörlosen-Wettkämpfen schon gewonnen, sagt sie.

Jennifer (r.) im Duell mit Abwehrchef Tyron (l.).
Jennifer (r.) im Duell mit Abwehrchef Tyron (l.). © FMN | Bernward Comes

In Deutschland geborene, gehörlose Kinder könnten ein sogenanntes Cochlea-Implantat bekommen, erklärt Keil. Die Hörprothese verbessere ihre Hörfähigkeit. Geräusche können dann blechern wahrgenommen werden, zeigen Simulationen. Aber Jennifer und ihre Familie lehnen diese Technik ab. „Ich brauche das nicht. Ich spreche doch eine Sprache“, übersetzt der Lehrer Keil ihre Gebärden. „Außerdem möchte ich den ganzen Lärm gar nicht hören“, sagt Jennifer.

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