Berlin. Sucht lässt sich behandeln. Doch das Therapie-System schwächelt. Was gute Ärzte bei Suchtproblemen zuerst bei Ihnen abklären sollten.

Die heutige Suchttherapie hat so einige blinde Flecken. Sie wäre deutlich erfolgreicher, würde sie nicht gleich mehrere Elefanten im Raum hartnäckig ignorieren. Abhängigkeit wurzelt in einer gestörten Hirnchemie. Die ist wie alle komplexen Systeme zwar ein Wunderwerk – aber auch störanfällig.

Passt die Versorgung mit Nährstoffen nicht, lahmt auch unsere Hirnchemie. Genauso kann der Blutzuckerspiegel dazwischen funken, die Schilddrüse, unsere Hormone und noch vieles mehr. Liegt da irgendwas im Argen, kommt auch unsere Hirnchemie aus dem Takt.

Startpunkt einer Suchtbehandlung müsste deshalb eigentlich eine gründliche medizinische Bestandsaufnahme sein, die genau diese potenziellen Störfaktoren erst einmal unter die Lupe nimmt. Stecken hinter der eigentlich andere Erkrankungen wie ADHS oder Depressionen, müssen diese angegangen werden. Sonst ist der Rückfall vorprogrammiert.

Sucht als Spitze eines Eisberges: AD(H)S, Depressionen, Angststörungen

Forscher sind sich einig: Suchtmittelkonsum ist sehr oft eigentlich nur so eine Art Selbstmedikation. Der Betroffene greift zu Flasche, Kippe, Pille oder Joystick, um eine Hirnchemie-Schieflage zumindest kurzfristig zu korrigieren oder zu betäuben. Viele wissen nicht mal davon, sie haben nie eine entsprechende Diagnose oder Behandlung bekommen. Wissenschaftler nehmen an, dass bis zu jeder zweite Süchtige eigentlich ein sogenanntes Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS) haben könnte. Jeder Zweite, das lassen Sie jetzt mal auf sich wirken.

ADHS ist, sehr verknappt gesagt, eine Störung im Dopaminhaushalt des Gehirns. Jedes Suchtmittel kurbelt das Dopamin an. Damit greift es genau da in den Hirnstoffwechsel ein, wo es bei Menschen mit ADHS auch mangelt. Wer nichts von seiner Krankheit weiß, nutzt Suchtmittel als kurzfristige Hilfe.

Depressionen: Jeden Fünften erwischt es einmal im Leben

Depressionen sind nicht (mehr) so etwas Exotisches wie ADHS. Gott sei dank hat sich da in den letzten Jahren viel getan. Trotzdem sind auch hier viele Klischees falsch – und können den Blick dafür verstellen, dass versteckte Depressionen hinter einer Suchterkrankung stecken.

Autorin Gaby Guzek ist Wissenschaftsjournalistin und Coach. In unserer Serie „Raus aus der Sucht“ beleuchtet sie verschiedene Süchte und Wege aus der Abhängigkeit.
Autorin Gaby Guzek ist Wissenschaftsjournalistin und Coach. In unserer Serie „Raus aus der Sucht“ beleuchtet sie verschiedene Süchte und Wege aus der Abhängigkeit. © Carmen Wilhelmer | Carmen Wilhelmer

Depressionen sind eigentlich ein riesiges Sammelbecken. Forscher schätzen, dass sie in der einen oder anderen Form jeden Fünften von uns irgendwann im Laufe des Lebens einmal erwischen. Oft vergehen Depressionen auch wieder. Dumm nur, wenn man in einer depressiven Phase dann in die Sucht flüchtet. Dann ist man gefangen. Zwar polieren Suchtmittel kurzfristig die Laune – langfristig verschärfen sie die Depression aber. Die Spirale abwärts dreht sich.

Bei Depressionen ist es ähnlich wie beim ADHS: Das Erkrankungsklischee ist falsch. Bei Depressiven denkt man an Menschen, die ständig traurig im Bett liegen, viel weinen und den Lebensmut verloren haben. Wer dieses Bild im Kopf hat, wird bei sich selbst eine Depression allzu leicht übersehen. Dabei kann sich eine Depression auch darin zeigen, dass der Betroffene rein körperlich keine Kraft mehr verspürt. Er fühlt sich wie ausgebrannt und ständig müde. Bauch- und Kopfschmerzen sind seine Begleiter. Dann begibt er sich auf die Suche nach körperlichen Ursachen. Wer denkt da schon an eine Depression?

Angst und Panik als ständige Begleiter

Angst- und Panikstörungen nehmen immer mehr zu, da sind sich Forscher einig. Die Betroffenen haben es schwer. Scheinbar aus dem Nichts heraus bekommen sie übermächtige Angst, bekommen keine Luft mehr, haben mitunter das Gefühl, jetzt sterben zu müssen. Landen sie damit in der Notaufnahme, sagen Geräte und Labor: Alles bestens. Oft muss es erst so weit kommen, bis der Betroffene merkt, woran er wirklich leidet.

Aber es gibt eine riesige Grauzone. Viele Menschen mit Angststörungen spüren eher ständig subtilen Angststress, den sie vielleicht nicht einmal als solchen wahr nehmen – der aber nach ein paar Drinks, einem Joint oder Partypillen verschwindet. Das ist dann die Schussfahrt in die Sucht.

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Suchtausstieg erleichtern: Schilddrüse und Hormone checken

Depressionen, Stress, Angst und Panik können wiederum sehr handfeste Gründe haben. Dahinter kann eine unerkannte Fehlfunktion der Schilddrüse oder eine Hormon-Imbalance stecken. Fast jeden zehnten Erwachsenen betrifft das – nur wissen die meisten nichts davon.

Hilft man der Schilddrüse auf die Sprünge, lösen sich Depressionen oder Panik in Luft auf und dem Betroffenen fällt der Suchtausstieg viel leichter. So simpel und logisch das klingt – kaum jemand schaut bei Abhängigen so über den Tellerrand.

Schlaf: So wichtig ist er beim Ausstieg

Schlechter Schlaf ist für Süchtige ein Riesenproblem. Schlaf und Sucht sind an zwei Enden verknüpft: Wer schlecht schläft, rutscht leichter in die Sucht. Wer süchtig ist, schläft schlecht. Dass aufputschende Suchtmittel den Schlaf torpedieren, muss man nicht extra erwähnen. Dafür sind sie ja schließlich da.

Wer Schlafprobleme hat, besitzt ein höheres Suchtrisiko und andersherum.
Wer Schlafprobleme hat, besitzt ein höheres Suchtrisiko und andersherum. © iStock | Andrii Lysenko

Wer nächtelang vor dem Computer zockt oder Pornos schaut, muss wohl auch nicht weiter darüber nachdenken, warum er ständig müde ist. Auch Alkohol ist ein Schlafzerstörer. Zwar schläft man mit Bier, Wein und Co. tatsächlich schneller ein – die Schlafqualität ist aber miserabel.

Schlechter Schlaf erschwert den dauerhaften Ausstieg. Obwohl es eine Tonne an wissenschaftlichen Belegen dafür gibt, kümmern sich Suchttherapeuten nicht oder nur sehr selten darum, ob ihre Patienten auch gut schlafen. Dabei gibt es so viel, was man den Betroffenen raten kann. Deshalb: Wer erfolgreich aus der Sucht aussteigen möchte, sollte sich dringend um einen guten, tiefen und erholsamen Schlaf kümmern.

Zur Person

  • Gaby Guzek ist seit mehr als 30 Jahren Fachjournalistin für Wissenschaft und Medizin.
  • Sie arbeitete nach ihrem Studium unter anderem bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der Fachzeitschrift „Die Neue Ärztliche“. Jahrelang selbst von schwerer Alkoholsucht betroffen und mit den Therapiemöglichkeiten unzufrieden, begann sie, sich intensiv mit dem Phänomen Sucht auseinanderzusetzen. 2020 veröffentlichte sie im Eigenverlag ihr Buch „Alkohol adé“* und steht heute als Coach unter gaby-guzek.com und in ihrem Forum alkohol-ade.com Alkoholsüchtigen zur Seite.
  • Ihr aktuelles Buch „Die Suchtlüge. Der Mythos von der fehlenden Willenskraft: Wie Sucht im Hirn entsteht und wie wir sie besiegen“ ist bei Heyne erschienen.

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