Osterode. Erdbeben in Syrien und Türkei fordert viele Opfer. Abdul Karim Alhasan aus Osterode und Dr. Kamal Sido aus Göttingen haben Familie im Erdbeben-Gebiet
Das Erdbeben vom vergangenen Montag in Syrien und der Türkei ist laut Expertenangaben eines der schlimmsten seit Jahrzehnten. Beinahe stündlich steigt die Zahl von Verletzten und Toten, ein Ende des Anstiegs ist daher noch nicht absehbar. Am 7. Februar wurden morgens 4.200 Tote in beiden betroffenen Ländern gemeldet. Immer wieder werden die Türkei und angrenzende Länder von Erdbeben heimgesucht. Grund dafür ist das dortige Zusammentreffen von fünf Erdplatten, die gegeneinander reiben. 1999 kamen in der Türkei mehr als 17.000 Menschen bei einem Beben in Düzce ums Leben. 1939 waren in der Provinz Erzincan sogar 33.000 Opfer zu beklagen. Dadurch, dass Syrien sowieso durch den Bürgerkrieg schon sehr stark in Mitleidenschaft gezogen ist, kommt nun zur bestehenden Krise eine neue hinzu. Es gibt abgeschottete Gebiete mit zahlreichen, dort in Zelten lebenden Flüchtlingen, wo die syrische Regierung keinen rechten Zugang hat. Für nicht wenige – so wird berichtet – erwiesen sich die Zelte als Lebensretter, da sie nicht wie Gebäude einstürzen konnten. Auch viele Menschen aus unserer Region bangen um ihre Angehörigen in der alten Heimat.
Dr. Kamal Sido hat Familie in der betroffenen Region. Der deutsch-kurdische Menschenrechtsaktivist ist im syrischen Afrin geboren, lebt seit Jahrzehnten in Deutschland und ist für die Göttinger Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) tätig. Er stellte unserer Zeitung einige Bilder aus Jinderes zur Verfügung, die den enormen Zerstörungsumfang zeigen.
Enorme Zerstörung in Jinderes
Die Kleinstadt im Kurd Dagh-Gebirge mit etwa 10.000 Einwohnern zählt zum Distrikt Afrin, Gouvernement Aleppo, im Nordwesten von Syrien gelegen. Dort gibt es viele Opfer. „Die Verbindung in die Erdbebenzone gestaltet sich schwierig, die Umgebung von Afrin ist derzeit kaum per Telefon oder Internet erreichbar. Es gibt keinen Strom, und es ist kalt geworden. Meine Geschwister sind auf der Straße.“
Aber auch die sowieso schon angespannte Situation in den Kurdengebieten tut ihr Übriges: „Nach dem schweren Erdbeben in Nordsyrien und der Türkei fordert die Gesellschaft für bedrohte Völker schnelle Hilfe für die kurdisch kontrollierten Gebiete. Die Bundesregierung muss die Türkei dazu drängen, ihre Angriffe auf Nordsyrien einzustellen, damit nach Überlebenden gesucht werden kann. Die Grenzübergänge aus der Türkei müssen für humanitäre Lieferungen offen bleiben, internationale Hilfe muss in die betroffenen Gebiete gelangen können.“
Erdbeben in der Türkei: Bilder aus dem Katastrophengebiet
„Lebensrettende Maßnahmen sollten im Vordergrund stehen“
Dr. Sido fordert weiter: „Die von vielen Staaten angebotene Katastrophenhilfe, unter anderem aus Israel, darf nicht aus ideologischen Gründen abgelehnt werden. Lebensrettende Maßnahmen müssen im Vordergrund stehen.“
Weder die türkische, noch die syrische Regierung seien daran interessiert, Hilfe für die kurdisch kontrollierten Gebiete zu leisten oder auch nur zuzulassen. Umso wichtiger sei es, dass die Bundesrepublik Deutschland und andere Staaten dafür sorgen, dass die Menschen in dieser kriegsgeschundenen Region nicht vergessen würden.
Auch Abdul Karim Alhasan sorgt sich um seine Angehörigen in Syrien und der Türkei. Der einst aus Syrien geflohene Künstler hat in Osterode am Harz seine neue Heimat gefunden. Spätestens seit dem „Denkmal Kunst – Kunst Denkmal“-Festival 2019 ist er vielen Sösestädtern mit seinen ausdrucksstark gemalten Bildern gut bekannt. „Meine Mutter und Schwester wohnen in Raqa in Syrien. Mein Bruder und meine andere Schwester in Orphaa in der Türkei. Sie sind wegen der großen Zerstörung immer noch auf der Straße.“ Zum Glück sei keiner verletzt, aber sie hätten nun kein Zuhause mehr. Er sorge sich besonders sehr um seine Mutter.
Nach Medienberichten ist die internationale Hilfe angelaufen und auf dem Weg in die betroffenen zwei Länder. Das sei insofern wichtig, da die ersten 72 Stunden entscheidend seien, um noch Menschen aus den Trümmern bergen und retten zu können. Wie die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) am 7. Februar in einer Presseerklärung berichtete, würde die Türkei trotz der Katastrophe weiterhin kurdische Gebiete bombardieren: „Das schwere Erdbeben vom Montag hält die Türkei nicht davon ab, kurdisch kontrollierte Gebiete in Nordsyrien zu bombardieren. Gegen Mitternacht griff die Türkei das vom Beben betroffene Umland von Tal Rifaat an. In der Gegend nördlich von Aleppo haben kurdische Vertriebene aus der Region Afrin Zuflucht gefunden.“
Mutwillig verschlimmert
Der Nahostexperte der GfbV, Dr. Kamal Sido, sagte dazu: „Es ist skandalös, dass ein Nato-Staat eine humanitäre Katastrophe mutwillig verschlimmert. Von anderen Nato-Ländern kommt dazu kein Wort der Kritik. Die jahrelange Blockade der kurdisch kontrollierten Gebiete Nordsyriens durch die Türkei und ihre westlichen Partner verschlimmere die Lage in den Erdbebengebieten zusätzlich. Das gesamte medizinische Versorgungssystem lag wegen des andauernden Bürgerkrieges sowie syrischer und russischer Angriffe bereits in Trümmern. Jetzt können viele Verletzte nicht versorgt werden. Die Versorgung der kurdischen Gebiete wurde und wird nicht nur von Assad, dem Präsidenten Syriens, verhindert. Besonders die Türkei hat die Grenzübergänge in die kurdischen Gebiete Nordsyriens für humanitäre Lieferungen geschlossen gehalten. Die Konsequenzen dieser jahrelangen Blockade tragen nun die traumatisierten, frierenden Menschen vor Ort.“
Zwar hat Fatma aus Hannover keine Familie im Erdbebenareal der Türkei. Da sie aber vor wenigen Wochen noch mit Freunden ins heutige Krisengebiet reisen wollte, um dort einige Tage Urlaub zu verbringen, ist sie nun erschrocken über das Ausmaß des Unglücks: „Meine Familie stammt von der Schwarzmeerküste in der Nähe Georgiens. Insofern ist sie nicht involviert. Aber Armenien ist nicht so weit entfernt, und auch dort gab es immer wieder Erdbeben in der Vergangenheit mit schlimmen Folgen. Was ich jetzt über die betroffenen Gebiete sehen muss, ist Schnee, Kälte und viele Ruinen, sehr schlimm alles.“