Gifhorn. Bei einer Diskussion mit Johanna Brauer (Linke) und Anna Fischer (SPD) sagt Sean Heller (Grüne), bei welchem Fest sie zu hören waren.
Deutschland empört sich über Nazi-Parolen grölende Jugendliche auf Sylt. Aber das Problem Rechtsextremismus scheint es nicht nur weit entfernt auf der betuchten Nordseeinsel zu geben: Bei Schützenfesten auf dem Land - auch im Landkreis Gifhorn - sollen Gäste nicht selten Ausländerhetze zum 90er-Jahre-Hit „L‘amour toujours“ von Gigi D‘Agostino betreiben. Das sagte Sean Heller (Grüne Jugend) aus Hillerse bei einer Podiumsdiskussion im Mehrgenerationenhaus in Gifhorn.
Die Grüne Jugend und die Linksjugend Gifhorn hatten zur Gesprächsrunde neben Heller auch Johanna Brauer (Linksjugend und Europakandidatin für Die Linke) und Anna Fischer (Jusos und SPD-Kreistags-Abgeordnete) eingeladen. Lennart Versteeg moderierte den Abend zum Thema „Rechtsruck in Europa. Was tun?“
Nazi-Parolen zu „L‘amour toujours“ waren auf einem Schützenfest in Leiferde zu hören
„Die Rechtspopulisten erfahren enormen Auftrieb“, sagte Fischer, „sie haben eine große Präsenz in den sozialen Medien.“ Warum haben sie es dort so einfach, vor allem Jugendliche zu erreichen? „Man hört einfache Antworten auf komplexe Fragestellungen“, so die Sozialdemokratin. Wenn die Wirtschaft nicht mehr floriert wie früher, hätten viele Menschen Angst vor einem sozialen Abstieg – ob begründet oder nicht.
Die chinesische Plattform „Tik-Tok“ sei ein Brandbeschleuniger, so Heller: „In 8 Sekunden passen einfache Antworten, aber mit langen Erklärungen“ - die eigentlich nötig wären - „wird es schwierig.“ Zum Beispiel bei der Schere zwischen Arm und Reich, die größer geworden sei.
Anna Fischer glaubt, dass Rechtsextreme nur laut, aber nicht viele sind
„Man muss die Sorgen der Menschen ernst nehmen, dagegen ist erst einmal nichts zu sagen“, so argumentierte Brauer von den Linken. Denn es verbreite sich das Gefühl im Land, „dass etwas nicht stimmt, dass gegen die Gesellschaft gekämpft wird“. Auf dieses Pferd sprängen die Rechtsextremen auf - „sie verwenden nur andere Begriffe“ - und spalteten damit die Gesellschaft. Die linken Parteien sollten daher wieder verstärkt eigene Themen besetzen.
Fischer sieht die Erfolge der AfD aber auch verstärkt bei Männern, die sich von Gleichstellung und Diversität in ihrem Gesellschaftsbild geschwächt sehen. Aber sind die äußerst Rechten im Land wirklich so viele, wie sie selbst immer vorgeben? „Ich denke, sie sind einfach nur sehr laut“, fand Fischer und verweist dabei auf das Sylt-Video, in dem sich junge Menschen selbst filmten, wie sie zu Gigi D‘Agostinos Hit die Parole „Deutschland den Deutschen - Ausländer raus!“ grölen. Die SPD-Politikerin: „Früher habe ich Rechtsextremismus nur als Problem der Unterschicht gesehen.“ Brauer: „Es ist nicht überraschend, dass BWL-Justus auf dem Video den rechten Arm hebt. Papis Anwalt wird ihn später schon rausboxen.“
Sean Heller sieht einen Grund in der „Wohlstandsverwahrlosung“
„Wohlstandsverwahrlosung“ - diesen Begriff findet der Grüne Heller sehr zutreffend dafür. „Dabei entsteht das Gefühl: Ist mir doch egal, was passiert. Das Gruppengefühl ist den Leuten wichtiger.“ Und genau das habe der Hillerser auch schon im Kreis Gifhorn beobachtet: „Wer auf Schützenfeste geht, wird feststellen: Auf dem Land passiert das oft.“ So habe er das auch in Leiferde erlebt: „Da ist das auch passiert!“ Als zu später Stunde in der der Zeltdisco das Lied „L‘amour toujours“ gespielt wurde, hätten einige Besucher ebenfalls die Nazi-Parole eingeworfen. „Ich habe aber keine Gesichter gesehen.“ Das D’Agostino-Phänomen sei also „kein Sylt-Problem, sondern ein gesellschaftliches“. Die Menchen verlören in der Gruppe die Hemmungen. „Aber das ist keine Mode, sondern Faschismus!“, so Heller.
Dadurch, das solche Parolen immer wieder wiederholt würden, würden sie gesellschaftsfähig, befürchtet Fischer. „Das wird immer extremer und niemand verzieht mehr das Gesicht.“ Sie findet es schon unbegreiflich, dass der Gifhorner Kreistag kürzlich eine halbe Stunde über „Remigration“ diskutiert hat. Brauer wirft SPD und Grüne allerdings auch vor, keinen Halt vor Begriffen wie „schnellere Abschiebung“ und vor Einschränkungen des Streikrechts zu machen.
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