Jerusalem. Nach einem Luftschlag im Gazastreifen sterben in einem brennenden Flüchtlingslager dutzende Menschen. Die israelische Reaktion ist neu.

 Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat den tödlichen Luftangriff Israels in Rafah israelischen Medien zufolge als „tragischen Fehler“ bezeichnet. Die Tragödie sei trotz der israelischen Bemühungen, Schaden von Zivilisten abzuwenden, geschehen, sagte Netanjahu demnach am Montagabend im Parlament. Er poche dennoch darauf, die Offensive in Rafah fortzusetzen.  Israel steht nach diesem Vorfall nun weltweit am Pranger.

Während Israels Führung also ungeachtet des weltweiten Entsetzens über den verheerenden Luftangriff an ihren Kriegszielen festhält, soll der Weltsicherheitsrat zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen, um zu prüfen, ob Isrfael eine rote Linie überschritten hat. Diplomaten aus dem mächtigsten Gremium der Vereinten Nationen berichteten, das Treffen sei für diesen Dienstag 21.30 Uhr MESZ angesetzt. 

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Die Bilder vom Ort des Angriffs waren verstörend: Lodernde Flammen, die sich durch Zelte fressen, dichter Rauch, in Panik flüchtende Menschen: Tel al-Sultan, ein von Tausenden Flüchtlingen bewohntes Gebiet im Süden des Gazastreifens glich einem Inderno. Überall Asche, Trümmer, Leichen – auch Babyleichen. Diese Bilder sind schwer zu verdauen.

Wo zuvor ganze Familien gelebt hatten, sieht man jetzt nur verbogenes Wellblech. Wer Glück hatte, verlor in dem Feuer nur das Dach über dem Kopf und den gesamten kargen Besitz. Die anderen verloren Familienangehörige oder zittern um ihr Leben, während die Ärzte in den Kliniken tun, was sie können – angesichts des Mangels an Geräten, Medizin und Personal ist das oft nicht viel.

Noch ist unklar, was sich nun konkret am späten Sonntagabend hier, im Nordwesten von Rafah, ereignet hat. Man weiß nur: Eine Explosion und Feuer im Flüchtlingslager haben Dutzende Todesopfer gefordert. Man weiß auch: Kurz zuvor hatte die israelische Armee in eben diesem Gebiet einen Luftangriff durchgeführt. Eine erste Erklärung aus israelischen Kreisen lautet: Nach dem Luftangriff habe ein 100 Meter entfernter Treibstofftank möglicherweise durch Granatsplitter Feuer gefangen, berichtet der Sender „ABC News“. Dadurch habe ein Zelt Feuer gefangen, was wiederum zu dem verheerenden Brand in dem Lager geführt habe.

Mehr von Israel-Korrespondentin Maria Sterkl

Israel: Luftschlag war im Einklang mit Völkerrecht

In arabischen sozialen Medien war da aber längst klar, dass Israel am Sterben Dutzender Menschen schuld war, und der Zorn war massiv. Das lag nicht nur an der hohen Opferzahl – laut palästinensischen Angaben sollen es 45 Tote und mindestens 60 Verletzte sein. Es sind vor allem der Ort und der Zeitpunkt des Luftschlags, die die Wogen hochgehen ließen: Nicht einmal 48 Stunden, nachdem der Internationale Gerichtshof in Den Haag Israel aufgefordert hatte, die Offensive in Rafah zu stoppen und alles zu tun, um hohe Opferzahlen in Rafah zu vermeiden, gingen in Tal-al-Sultan die Flammen hoch. Und zwar ausgerechnet dort, wo Tausende Menschen, die zuvor von Israels Armee evakuiert worden waren, Zuflucht gesucht hatten. Familien, denen man erklärt hatte, sie sollten die Kampfzone verlassen und sich in Sicherheit begeben, fanden sich nun plötzlich mitten in der Kampfzone wieder.

Israel schickt mehr Bodentruppen nach Rafah

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    Israels Armee bezeichnete den Luftschlag in einer ersten Reaktion als präzise Aktion gegen militärische Ziele im Einklang mit dem Völkerrecht, „auf Basis präziser Geheimdienstinformationen, die auf eine Hamas-Verwendung des Gebiets hinwiesen“. Zwei führende Hamas-Kommandanten, die für zahlreiche Attentate gegen Israelis im Westjordanland verantwortlich gemacht werden, sollen bei dem Schlag getötet worden sein.

    Militärstaatsanwältin: „Sehr schwerwiegender Vorfall“

    Noch bevor diese ersten Ergebnisse vorlagen, gab bereits Israels oberste Militärstaatsanwältin Yifat Tomer-Yerushalmi eine seltene Stellungnahme ab. Es handle sich bei dem Feuer im Flüchtlingslager um einen „sehr schwerwiegenden Vorfall“, sagte Tomer-Yerushalmi. Man werde den Zwischenfall gründlich untersuchen.

    Diese versöhnlichen Worte kommen wohl nicht ganz zufällig. Sie sind wohl eine Folge der jüngsten Mahnrufe aus Den Haag: Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag hatte in der Vorwoche einen Antrag auf Haftbefehle gegen Israels Premier Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Gallant gestellt. Er hatte dies unter anderem damit begründet, dass er seinen Glauben an eine gründliche Aufklärung mutmaßlicher Kriegsverbrechen durch israelische Behörden längst verloren habe. Genau dieser Argumentation will Israel nun – und wie Kritiker im Inland sagen, viel zu spät – entgegen treten.

    Baerbock: „Humanitäres Völkerrecht gilt für alle, auch für die israelische Kriegsführung“

    International ist der Ruf Israels aber längst beschädigt, und der Brand in Tel al-Sultan macht es nicht besser. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zeigt sich „empört“ über den Zwischenfall. EU-Außenbeauftragter Josep Borrell rief Israel auf, die Rafah-Offensive sofort zu beenden – so, wie es der Gerichtshof in Den Haag der israelischen Regierung am Freitag aufgetragen hatte.

    Ein verletztes Kind, das nach dem Luftschlag in Rafah behandelt wird.
    Ein verletztes Kind, das nach dem Luftschlag in Rafah behandelt wird. © REUTERS | MOAZ ABU TAHA

    Mit Israel kommen auch seine Verbündete immer stärker unter Druck – und dazu zählt auch Deutschland. Nach den klaren Worten des Gerichtshofs in Den Haag sieht sich Berlin gezwungen, nicht mehr nur ständig auf Israels Selbstverteidigungsrecht zu verweisen, sondern auch kritische Worte zu äußern. So erklärte Außenministerin Annalena Baerbock am Rande des EU-Außenministertreffens in Brüssel: „Das humanitäre Völkerrecht gilt für alle, auch für die israelische Kriegsführung.“ Der Beschluss des Internationalen Gerichtshofs sei bindend und müsse respektiert werden.

    Hamas nicht gebrochen – Raketenalarm in Tel Aviv

    Fast acht Monate nach Beginn des Kriegs kann Israel noch lange nicht davon sprechen, seine Kriegsziele erreicht zu haben. Immer noch sind mehr als hundert Geiseln in der Gewalt der Hamas in Gaza – viele von ihnen sind inzwischen wohl tot. Und ein Raketenhagel auf Israel am Sonntagnachmittag führte den Menschen in Israel vor Augen, dass die Terroristen in Gaza noch lange nicht am Ende ihrer Kräfte angelangt sind: Erstmals seit Januar heulten im Großraum Tel Aviv wieder die Sirenen. Bewohner der dicht besiedelten Gebiete rannten in die Luftschutzräume. Es gab mehrere Einschläge, die keine Verletzten forderten. Laut Angaben der israelischen Streitkräfte gingen die Angriffe von Stellungen in Rafah aus. Verteidigungsminister Joav Gallant sieht sich durch die Attacke bestätigt, dass Israel seine Offensive in Rafah ausweiten müsse.

    Der Weltgerichtshof in Den Haag hatte Israel aufgetragen, „die Militäroffensive in Rafah sofort zu stoppen“. Das öffnet jedoch Spielraum für unterschiedliche Auslegungen: Während Israels Kritiker die Armee zum sofortigen Rückzug aus Rafah aufrufen, gibt es auch andere Stimmen, die nur ein weiteres Vordringen von Israels Bodentruppen für illegitim halten. In Israel sieht man immer noch ausreichend Spielraum, in Rafah militärisch zu operieren. „Wir haben auch weiterhin das Recht, uns zu verteidigen“, sagte Tzachi Hanegbi, Nationaler Sicherheitsberater der Regierung Netanjahu. „Daran hindert uns der Gerichtshof nicht.“

    Luftschlag lässt Hoffnung für Geiseln schwinden

    War der Schlag auf Tel al-Sultan also ein Defensivschlag mit hohem Kollateralschaden? Das widerspricht wiederum der Darstellung der Armee, wonach man Präzisionsmunition eingesetzt habe.

    Die Palästinenserführung in Ramallah hat sich ihre Meinung bereits gebildet: Israels Armee greife „gezielt Zivilisten an“, heißt es in einer Stellungnahme aus dem Büro von Präsident Machmud Abbas. Das Außenministerium in Katar warnte, dass der Vorfall die Bemühungen um einen neuen Geisel-Deal belasten könnten.